Interessantes aus der Geschichte des heutigen Lagenser Stationsgebäudes

Ihren alten Bahnhof betrachteten die Lagenser von Anfang an als eine Art Übergangslösung auf dem Weg zu einem „richtigen“ Bahnhof. Spätestens seit etwa 1890 dürften die Mängel des zwischenzeitlich unterdimensionierten Gebäudes unübersehbar gewesen sein. So fragte dann die Stadtverwaltung zum Beginn des Jahres 1893 bei der Bahn an, wann mit einem Neubau oder zumindest doch einem Umbau gerechnet werden könne.

Die Antwort der Königlich Preußischen Eisenbahn Verwaltung (KPEV) war indessen entmutigend, da man die Stadt wissen ließ, dass derartige Bauabsichten nicht bestünden1. Eine weitere Anfrage aus dem Lagenser Rathaus, diesmal unter Hinweis auf die bevorstehende Inbetriebnahme der Strecke Lage – Lemgo, brachte kein anderes Ergebnis2. Erst im darauf folgenden Frühjahr erreichte die Lagenser eine positive Antwort3. Der Neubau, so machte es in Windeseile die Runde, sei für 1896/1897 vorgesehen. Allerdings währte die Freude nicht lange, denn das Preußische Ministerium für öffentliche Arbeiten, das über die KPEV die Aufsicht führte, strich das Bauvorhaben ersatzlos. Die Gründe dieser „Kurskorrektur“ durch den preußischen Staat sind uns nicht bekannt. Auf Ersuchen der Stadt Lage wurde die Lippische Regierung daraufhin in Berlin vorstellig, konnte dort aber keinen Meinungsumschwung erreichen. Die Lagenser Hoffnung auf ein angemessenes Empfangsgebäude blieb damit zunächst einmal unerfüllt.

Eine entscheidende Änderung der Sachlage trat 1900 ein, denn die Bahn übersandte der Stadtverwaltung einen Lageplan, aus dem der geplante Umbau des Bahnhofs Lage zu ersehen war. Nicht nur die Gleisanlagen und die Sicherungstechnik waren hiervon betroffen, sondern auch und gerade das Empfangsgebäude: das bisherige Gebäude musste neuen Gleisen Platz machen. Ein Neubau war in Sicht! Das neue Gebäude sollte direkt neben dem Alten entstehen. Damit die Baugrube ausgehoben werden konnte, musste zuvor der alte Güterschuppen abgerissen werden. Der größere und zeitgemäße Ersatzbau, welcher in den Jahren 2011/2012 abgerissen wurde, war bereits 1901 bezugsfertig hergestellt. Dem ersten Spatenstich für das neue Empfangsgebäude stand damit nichts mehr im Wege. Da aufgrund des hoch anstehenden Grundwassers die Kellerwände4 nicht als Mauerwerk ausgeführt werden konnten, war Beton das Mittel der Wahl. Mit den Fundamentarbeiten wurde noch im Oktober 1901 begonnen, gerade noch rechtzeitig, um sie vor dem Wintereinbruch beenden zu können. Im Frühjahr 1902 wurden die Arbeiten am neuen Gebäude so früh als möglich wieder aufgenommen. Schnell begann der Bau an Kontur zu gewinnen, so dass schon im Juni die Rohbauabnahme erfolgen konnte. Auch in den kommenden Monaten gingen die Arbeiten gut voran, woraufhin das Gebäude am 04.10.1902 seiner Bestimmung übergeben werden konnte. Allerdings erfolgte nur die Einweihung des neuen Gebäudes, denn die veränderte Gleislage war noch nicht fertig gestellt, da das alte Gebäude zunächst abgerissen werden musste. Im Übrigen warteten auch die Außenanlagen noch auf ihre Fertigstellung. Insbesondere der Zufuhrweg zum neuen Güterschuppen, der wegen der fortdauernden Arbeiten am neuen Empfangsgebäude noch nicht endgültig hergestellt war, befand sich offenbar in einem „schauderhaften Zustand“, wie aus zeitgenössischen Berichten hervorgeht5. Auch die Angleichung des Sedanplatzes an die Höhenlage des neuen Gebäudes war noch nicht zum Abschluss gekommen, wenngleich die Stadt mit Hochdruck daran arbeitete. Hier und da gab es also noch etwas in Ordnung zu bringen, als der Tag der Einweihung näher rückte. In der damaligen Presse6 ist darüber folgendes nachzulesen:

„Punkt 2 Uhr haben sich am Sonnabend sämtliche Meister, Gesellen und Lehrlinge, die am neuen Empfangsgebäude gearbeitet haben, dort einzufinden u. der Übernahme beizuwohnen“, so schwirrte es seit Freitag durch die Luft. Sonnabend Mittag gegen 2 Uhr sah man denn auch viele ehrsame Handwerksmeister in schwarzem Anzuge und Zylinder, sowie Gesellen und Lehrlinge zum Bahnhof eilen, um hier der Dinge zu harren, die da kommen würden. Während einige meinten, ein schönes Gratis-Festessen stehe bestimmt bereit, waren andere der Meinung, es gäbe wenigstens einige Fässer Bier, – etwas erwartete eben jeder. Eine Stunde später sah man die Mitglieder des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung zur Bahn schreiten (…). Reichlich hundert Personen standen um 3 Uhr in stummem Harren im Wartesaal 3. und 4. Klasse. Kurz nach 3 Uhr erschienen dann die Herren Geh. Reg.-Rat Pustkuchen, Detmold, Reg.-Baurat Böhmer=Detmold, Reg.- und Baurat Winde, Minden und Geh. Regierungsbaurat Holverscheid, Hannover (…). Hierauf besichtigten die Vertreter der einzelnen Korporationen in Gesellschaft der Herren von der Regierung das neue Gebäude, den Güterschuppen und das Stellwerk an der Lemgoerstraße. Wohl eine Stunde dauerte die Besichtigung, die zum Feste geladenen Handwerker hatten inzwischen das Vergnügen, im Wartesaal geduldig stehen zu können und hin und wieder mal nachzuschauen, ob die Herren mit der Besichtigung schon bald fertig seien, damit nun auch ihrem Erwarten Rechnung getragen werde (…) Endlich kamen die Ersehnten zurück, wie der Blitz nahm alles wieder Aufstellung, aber die Herren der Eisenbahndirektion gingen vorüber in den anderen Saal hinein und ließen sich dort häuslich nieder. Kein Mensch wusste, kommt noch was oder kommt nichts mehr. So nach und nach ging daher einer nach dem anderen mit „getäuschten Hoffnungen“ nach Hause (…). Das war das „Fest der Übernahme“, auf das sich hunderte so herzlich gefreut haben (…) Ein kleines Wort der Anerkennung seitens der Oberbehörde wäre sicher am Platze gewesen (…) Wir nehmen an, dass die ganze Sache übers Knie gebrochen ist und die Zeit nicht erlaubte, bessere Vorbereitungen zu treffen. Jedenfalls aber wird diese Übernahme noch lange in hiesiger Stadt bewitzelt werden. – Einige der Handwerksmeister waren glücklicherweise so nobel, ihren Gesellen und Lehrlingen einige Glas Bier zu spendieren, damit es doch nicht ganz „trocken“ blieb.

Für die Bevölkerung war das neue Empfangsgebäude in vielerlei Hinsicht eine wichtige Angelegenheit. In erster Linie erhielt der einzige lippische Knotenpunktbahnhof zum ersten Mal ein angemessenes Empfangsgebäude, denn das inzwischen heruntergewirtschaftete Äußere des alten Bahnhofes war Vielen ein Dorn im Auge. Lage blühte wirtschaftlich und kulturell auf, prachtvolle Bauten entstanden an prachtvollen Plätzen, so dass es einfach an der Zeit war, den Schandfleck „alter Bahnhof“ zu beseitigen. Und der neue Bahnhof verfügte über eine höchst willkommene Neuerung: er besaß eine große Uhr, die auch von der Stadt her gut zu sehen war. An der Wende zum 20. Jahrhundert war der Besitz einer Uhr beileibe keine Selbstverständlichkeit und Lage besaß bis 1905 keine eigene öffentliche Uhr7, so dass der neuen Bahnhofsuhr eine ganz besondere Bedeutung zukam. Auf Anfrage der Stadtverordneten-Versammlung, wo die Bahn gedenke, die Uhr aufzustellen, teilte diese mit, sie sei für das Oberlicht der Eingangstür vorgesehen8. Da die Sichtbarkeit der Uhr von der Stadt aus eine Angelegenheit von „größter Bedeutung“ sei9, konnte sich die Bahn dazu entschließen, die Uhr noch höher anzubringen und zwar in einer Gaube direkt über dem Eingangsbereich.

Da es damals üblich war, Bauleistungen so weit als möglich durch ortsansässige Betriebe ausführen zu lassen und auch das erforderliche Material vor Ort zu beschaffen, war der Bahnhofsneubau auch unter diesem Gesichtspunkt durchaus ein Segen. Der Bau, dessen Rauminhalt stolze 660 m³ umfasste, verschlang die für damalige Verhältnisse enorme Summe von 450.000 RM. Ein wesentlicher Teil davon verblieb in Lage oder doch zumindest im Lipperland10. Die Lagenser (Bau-)Wirtschaft war sehr froh über diese Entwicklung, da die Neubaumaßnahme zumindest für das Jahr 1902 volle Auftragsbücher versprach11.

Im Hinblick auf die Gebäudesubstanz ergaben sich in den ersten Jahren nach Inbetriebnahme keinerlei Veränderungen. Handlungsbedarf zeichnete sich erst Ende 1914 ab, da sich die Gepäckabfertigung inzwischen als unterdimensioniert herausstellte. Platz konnte nur durch die Inanspruchnahme eines Teiles der Empfangshalle geschaffen werden, wodurch diese ihren bis zur Renovierung im Frühjahr 2006 geltenden Grundriss erhielt. Mit den Arbeiten wurde im März 1915 begonnen, sie kamen aber erst im Januar 1916 zum Abschluss12. Auch bei der nächsten uns bekannten Umbauarbeit war die Empfangshalle wieder betroffen. Nachdem sich der Standort der Wärterhäuschen für die Bahnsteigsperren an den Treppenaufgängen des Tunnels als völlig ungeeignet herausstellte, wurden diese jetzt in das Empfangsgebäude verlegt. Wer zu den Gleisen wollte, konnte die Halle nur mit Fahr- oder Bahnsteigkarte verlassen. Diese Neuregelung galt ab Sommer 191913.

Bis sich die Bahn wieder einmal mit Umbauarbeiten befasste, vergingen ganze 17 Jahre. In der Dienstwohnung des Bahnhofsvorstehers sollte unter Wegfall des bisher vorhandenen Kinderzimmers ein Bad und WC eingebaut werden. Im gleichen Jahr, also im Olympiajahr 1936, sollte auch die Sanitärsituation des Wartessaals 3. Klasse durch den Einbau eines WCs verbessert werden. Realisiert wurde aber zunächst nur die Renovierung der Dienstwohnung, die 1937 zusätzlich noch an die Zentralheizung angeschlossen wurde14. Die kurzfristig verschobenen Arbeiten an der Toilettenanlage des Wartesaals 3. Klasse wurden dann doch noch in Angriff genommen und konnten im Frühjahr 1938 abgeschlossen werden15. Die Stadt begrüßte die durchgeführten Maßnahmen, forderte jedoch in Anbetracht des höheren Abwasseraufkommens die Anlage einer bahneigenen Klärgrube16. Da nichts Gegenteiliges bekannt ist, dürfte die Reichsbahn dieser Aufforderung nachgekommen sein.

Die Wirren des Zweiten Weltkrieges überstand das Gebäude ohne nennenswerte Beschädigungen, so dass größere Reparaturarbeiten nicht erforderlich waren. Da sich die bisherigen Umbauarbeiten nur auf das Gebäudeinnere erstreckten, verkörperte das Empfangsgebäude nach dem Ende des Krieges äußerlich immer noch den Zustand seiner Errichtung im Jahre 1902. Das Erscheinungsbild des Bahnhofes blieb damit ein halbes Jahrhundert hinweg völlig unverändert.

Konrad Soppa

  1. Stadtarchiv Lage 3156, 01.02.1893, 16.02.1893
  2. Stadtarchiv Lage 3156, 12.08.1893, 22.08.1893
  3. Stadtarchiv Lage 3156, 21.05.1894
  4. Nicht das gesamte Stationsgebäude ist unterkellert. Kellerräume sind nur im Bereich des Nord- und Südendes des Gebäudes angelegt.
  5. Zeitlupe 2002, S. 95
  6. Lippische Volkszeitung, Ausgabe vom 6.10.1902
  7. Zeitlupe 2005, S. 111
  8. Altaktenbestand des städtischen Baudezernats, 03.06.1902
  9. Altaktenbestand des städtischen Baudezernats, 30.05.1902
  10. Lippische Volkszeitung, Ausgabe vom 06.10.1902
  11. Zeitlupe 2002, S. 104
  12. Altaktenbestand des städtischen Baudezernats, 26.02.1915, 31.01.1916
  13. Stadtarchiv Lage 3117, 24.08.1919
  14. Stadtarchiv Lage 3183. 23.04.1937
  15. Altaktenbestand des städtischen Baudezernats, 05.05.1938
  16. Altaktenbestand des städtischen Baudezernats, 11.05.1938