Geklaut und vergessen-Geschichten zum ehemaligen Haltepunkt Wissentrup

Eine derjenigen lippischen Stationen, zu denen wir heute am wenigsten wissen, ist der Haltepunkt Wissentrup. Auch das Ende 2011 erschienene Buch über die lippische Eisenbahngeschichte1 streift Wissentrup nur am Rande und erschöpft sich in der Feststellung, der Haltepunkt sei 1903 im Zuge der Streckeneröffnung Lage – Oerlinghausen angelegt worden. Im Menninghaus findet sich noch die ergänzende Angabe, dass sich der Haltepunkt bei km 3,447 befand2. Viel mehr ist im eisenbahngeschichtlichen Schrifttum zu Wissentrup leider nicht zu ermitteln.

Einige der wenigen darüber hinausgehenden Informationen zu Wissentrup verdanken wir u. a. dem lesenswerten Büchlein von Frau Arabin-Welchert. Unter dem Titel „Ich schrieb es auf“ besteht das Buch aus einer Abfolge von Anekdoten, die die Autorin als persönliche Erinnerungen an Menschen und Begebenheiten zu Papier gebracht hat3. Zu Wissentrup schrieb sie folgendes: „Die nächste Bahnstation vor Lage war der kleine Bahnhof Wissentrup; er war nur ein kleiner Haltplatz, der zum Ein- und Aussteigen diente. Die Fahrgäste standen hier aber, allen Witterungsunbilden preisgegeben, draußen. Später wurde eine kleine Bretterhütte ohne Sitzgelegenheit aufgestellt. Eine Fahrkarte musste man im Zuge kaufen. Einige Jahre ging es gut mit dieser primitiven Unterstellmöglichkeit. Licht war in Gestalt einer kleinen Petroleumlaterne vorhanden, die vom letzten Abendzugschaffner gelöscht wurde. Doch bald war diese mitsamt den Holzplanken gestohlen. Man wurde massiver, die Unterstellmöglichkeit musste so sein, dass diese nicht gestohlen werden konnte. Ein alter Güterwagen wurde mit viel Mühe auf den „Bahnhof“ gestellt. Eine Bank wurde mit Nägeln und Eisen befestigt. Auch dieses ging wieder eine Zeit lang gut, bis die Bank, Beleuchtung und Tür verschwanden. Es dauerte gar nicht mehr so lange, da war auch das letzte Stückchen Holz vom Güterwagen, der als Bahnhof diente, verschwunden – der ganze Bahnhof war ‚geklaut‘.“

Zu Wissentrup gibt es noch eine weitere nette Geschichte, die Bachler im zweiten Band „Lippe Anno dazumal“ nacherzählt4. Die Geschichte berichtet von den näheren Umständen, unter denen die Wissentruper zu ihrem „Bahnhofsgebäude“ gekommen sein sollen:

„Wis-sen-trup!“ ruft der Schaffner in Wissentrup an der Strecke Bielefeld – Lage. „Schaffner, dat is hier wohl Station Freienfelde? Oder wo ist hier ein Bahnhof?“ fragt ein Wissbegieriger. „Da steiht he doch!“ knurrt der Bahnbedienstete, auf einen räderlosen, dementsprechend bodenständigen Güterwagen weisend, dessen vordere Längsseite mit einigem Geschick geöffnet worden ist und die zweckvollen Vorrichtungen für Zugang von Mensch und Licht erhielt, wie das für öffentliche Bahnhöfe unumgänglich ist. Nachdem der Schaffner „Alles einsteigen!“ gerufen hatte, und der einmalige „Bahnhof“ den staunenden Blicken des Ortsfremden entschwand, erzählt der Schaffner während der Fahrscheinkontrolle den aufhorchenden Abteilinsassen die Geschichte von den bösen Wissentrupern, die, als das Nachbardorf Ehlenbruch einen Bahnhof erhielt, der Ehrgeiz nicht schlafen ließ, sodass sie bei Nacht und Nebel in Bielefeld-Ost einen alten Güterwagen requirierten, herbeiholten, abmontierten und behelfsmäßig-bahnhofig einrichteten. „Denn“, so beendet er die kleine Geschichte, „einen eigenen Bahnhof wollten sie haben, die Wissentruper, und wäre es auch nur ein geklauter.“

Wie gesagt, die beiden Berichte von Arabin-Welchert und Bachler können nicht als wissenschaftlich gesichert angesehen werden, denn die von ihnen beschriebenen Geschehnisse haben, soweit bekannt, nirgendwo in den überlieferten Akten die kleinste Bestätigung gefunden. Aber immerhin, ein kleines Fünkchen Wahrheit ist oftmals dran, wenn solche Geschichten von Generation zu Generation weitergeben werden. Eines aber ist gewiss: zu keiner anderen lippischen Bahnstation gibt es so nette Geschichtchen wie zu Wissentrup!

Seit wann in Wissentrup keine Züge mehr halten, ließ sich leider nicht mehr verbindlich recherchieren. Jedenfalls ist der Haltepunkt Wissentrup schon im Winterfahrplan 1967/1968 nicht mehr verzeichnet. Der Haltpunkt war damit schon zum Zeitpunkt der Großgemeindebildung (01.01.1970) nur noch Geschichte. Wissentrup dürfte eine der ersten lippischen Bahnstationen gewesen sein, die in den 60er und 70er Jahren einer ganzen Welle von Schließungen (oder zumindest Einschränkungen der Stückgutabfertigung) zum Opfer fielen. Remmighausen oder Nienhagen könnten hier beispielhaft aufgeführt werden.

Wissentrup, eine vielleicht in doppeltem Sinne „geklaute“ Bahnstation, bestand damit etwa 60 Jahre lang. Sie ist die erste und bisher einzige Bahnanlage auf Lagenser Stadtgebiet, die geschlossen wurde. Zu meinem Bedauern kann ich diesem kurzen Beitrag kein Foto vom ehemaligen Haltepunkt Wissentrup beifügen. Ich habe noch nie eines gesehen …!

Konrad Soppa

Wenn Sie Erinnerungen an den Haltepunkt Wissentrup haben, würden wir uns freuen, davon zu erfahren.

  1. Riepelmeier, G., Die Eisenbahn in Lippe (Hövelhof 2005)
  2. Menninghaus, W., 100 Jahre Eisenbahn in Lippe (Lübbecke 1981)
  3. Arabin-Welchert, C., Ich schrieb es auf: Erinnerungen aus der Stadt Lage (Lage 1964)
  4. Bachler, G., Lippe Anno dazumal Band II (Lemgo 1980)